Vorbemerkung Kapitel II


Die Restauration der Bundesrepublik Deutschland
Das politische und gesellschaftliche Klima in den drei Westzonen war nach Ende des Krieges von Wiederaufbau, der Schaffung des »Wirtschaftswunders« und der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit bestimmt. Die westlichen Siegermächte Frankreich, England und vor allem die USA forcierten die kapitalistische Restauration der drei Westzonen und ihre Eingliederung in den westlichen Militär- und Wirtschaftsblock. Sie blockierten jede Initiative, die nach dem Zusammenbruch des »3. Reiches« grundlegende gesellschaftliche Veränderungen anstrebte, und bauten die Westzonen zum »Bollwerk gegen den Bolschwismus« aus.
Diesen Zielen wurde auch die »Entnazifizierung« untergeordnet. Binnen weniger Jahre waren ehemalige Nazis wieder in Amt und Würden, Haftstrafen gegen sie wurden ausgesetzt. Der Feind stand wieder links.
1947 wurde in der »Truman-Doktrin« Anti-Kommunismus und der »Kalte Krieg« als neue Leitlinien der us-amerikanischen Außenpolitik festgelegt. Als die Koalition aus CDU/CSU, FDP und DP (Deutsche Partei) unter Bundeskanzler Konrad Adenauer aus den ersten Bundestagswahlen im August 1949 als Sieger hervorging, wurde diese Politik für den »Frontstaat« Bundesrepublik Deutschland nachvollzogen.
Bereits Anfang der 50er Jahre begann eine erneute Verfolgung von Mitgliedern der KPD, die bis dahin sowohl im Bundestag als auch in fast allen Länderparlamenten vertreten war. Gegen KommunistInnen, die während des Faschismus in Zuchthäusern und Konzentrationslagern gesessen hatten, wurden die gleichen Beschuldigungen wie zur Zeit des Nationalsozialismus erhoben, viele zu Haftstrafen, u.a. wegen »Hochverrats«, verurteilt. 1956 gab das Bundesverfassungsgericht dem Antrag der Adenauer-Regierung auf Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands statt, das Parteivermögen wurde beschlagnahmt, die Parteibüros geschlossen.
Als wichtigen Schritt zur Integration der BRD in das westliche Militärbündnis strebte die Adenauer-Regierung ab Anfang der 50er Jahre die Remilitarisierung Deutschlands an. Gegen diese Ziele demonstrierte eine breite antimilitaristische Bewegung. In einer - verbotenen - Volksbefragung sammelte sie 9 Millionen Stimmen gegen die Wiederbewaffnung. Sie setzte sich vor allem aus Mitgliedern der Falken, der Gewerkschaftsjugend, der FDJ (Jugendorganisation der KPD) und Personen aus kirchlichen Kreisen zusammen. Als Adenauer und der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß 1957 die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen forderten, kam aus dieser antimilitaristischen Bewegung der Anstoß zu der Kampagne »Kampf dem Atomtod«.
Ungeachtet dieses Protestes wurden die Remilitarisierung Deutschlands und später die atomare Aufrüstung der Bundeswehr im Bundestag beschlossen. 1955 trat die BRD der NATO bei, ein Jahr später wurde die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt.
Als Instrument zur Wahrung der »Inneren Sicherheit« wurde am 13. Januar 1960 von Innenminister Schröder der erste Entwurf der Notstandsgesetze vorgelegt, die es der jeweiligen Regierung gesetzlich möglich machen, »zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Ordnung des Bundes oder einer der Länder« den Ausnahmezustand zu erklären und Grundrechte weitgehend außer Kraft zu setzen. Dieses Gesetzespaket konnte allerdings erst 1968 gegen heftigen außerparlamentarischen Widerstand von der großen Koalition aus CDU/CSU/SPD mit der erforderlichen 2/3-Mehrheit verabschiedet werden.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) verabschiedete sich auf dem Godesberger Parteitag im November 1959 endgültig von marxistischen Zielen und den Traditionen der Arbeiterbewegung. Sie definierte sich fortan als »Volkspartei« und hatte nicht mehr einen gesellschaftlichen Umsturz und die Beseitigung kapitalistischer Produktionsverhältnisse zum Ziel, sondern setzte auf »Mitbestimmung« und Regierungsbeteiligung. Damit war der Weg für die Bildung der großen Koalition von CDU/CSU und SPD im November 1966 geebnet. Die Integrationsfähigkeit der Sozialdemokraten wurde gebraucht, um die Proteste angesichts der ersten wirtschaftlichen Krisenerscheinungen seit Kriegsende zu bewältigen.
Bereits zuvor hatte sich die SPD - wie auch die Gewerkschaften -, aus den Protestbewegungen gegen Atomtod und Notstandsgesetze nach anfänglicher Beteiligung zurückgezogen, mit ihrem Eintritt in die Regierungsverantwortung verlor sie für viele Linke ihre Glaubwürdigkeit als gesellschaftsverändernde Kraft. Am 10. Dezember 1966 rief Rudi Dutschke zur Bildung einer außerparlamentarischen Opposition (APO) auf.

Die 68er Revolte
In den Jahren 1967/68 entwickelte sich - ausgehend von den Universitäten - in rasantem Tempo die antiautoritäre Bewegung, die innerhalb weniger Jahre einen Bruch mit den moralischen und politischen Werten der Eltern - der »Auschwitz-Generation« - vollzog. Dieser Protest setzte zunächst in den Bereichen persönlicher Erfahrung an, richtete sich gegen die autoritären Strukturen in Staat und Gesellschaft, gegen Meinungsmanipulation - vor allem am Beispiel der Springer-Presse -, gegen die Notstandsgesetze und den repressiven Staatsapparat und zielte auf persönliche Emanzipation.
Eine besondere Dynamik erhielt diese Bewegung dann aus der Verbindung mit dem politischen Lernprozeß, der durch die Auseinandersetzung mit dem Vietnam-Krieg ab Mitte der 60er Jahre in Gang kam und die bis dahin weitgehend unwidersprochenen Werte von »Demokratie und Freiheit« angesichts des Krieges der amerikanischen Befreier vom Faschismus gegen das vietnamesische Volk zerplatzen ließ.
In Vietnam hatte die 1944 gegründete Befreiungsfront den Kampf gegen die japanischen und französischen Kolonialmächte aufgenommen. Nachdem die französische Kolonialarmee 1954 kapitulierte, wurde das Land auf Betreiben der alliierten Großmächte des Zweiten Weltkrieges in Nord- und Südvietnam geteilt und Wahlen unter internationaler Kontrolle bis zum 26.7.1956 vereinbart.
Unter Kontrolle der Amerikaner wurde in Südvietnam ein Statthalterregime unter Ngo Dinh Diem eingesetzt, Nordvietnam von der Befreiungsfront unter Ho Tschi-minh regiert.
Als Ngo Dinh Diem die vereinbarten Wahlen behinderte, wuchs der Widerstand im Land. 1965 kam es in Südvietnam zu den ersten militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Armee und der 1960 gegründeten Nationalen Befreiungsfront (FLN). Von diesem Zeitpunkt an nahm das militärische Engagement der USA zu, die Truppenstärke wie auch die Zahl der Bombenangriffe - vor allem gegen Nordvietnam als »Rückzugsbasis« - wurden ständig erhöht. Die amerikanische Regierung erklärte den Vietnam-Krieg zum Kampf für die »freie Welt« und gegen den Kommunismus.
Die Brutalität der us-amerikanischen Flächenbombardements unter Einsatz von Napalm löste in der BRD, wie in anderen westlichen Industriestaaten, zunächst humanitär und moralisch begründete Proteste und Empörung aus. Als dann - initiiert vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) - die politischen Interessen und Zusammenhänge analysiert wurden, entwickelte sich in der Studentenbewegung ein bewußtes anti-imperialistisches Engagement und die Unterstützung der Befreiungsbewegungen der 3.Welt.
Auf dem internationalen Vietnam-Kongreß im Februar 1968 in Berlin wurden die Konsequenzen aus diesen Analysen gezogen: zur Unterstützung des Befreiungskampfes in der 3.Welt und für eine weltweite Umwälzung der sozialen und politischen Verhältnisse sollte in den Metropolen eine zweite Front eröffnet werden, durfte Westeuropa nicht das »ruhige Hinterland des Imperialismus« bleiben. Die Mittel und Formen in diesem Kampf sollten nach den Bedingungen und dem Bewußtsein der Massen in den jeweiligen Ländern bestimmt werden. Dies schloß ausdrücklich auch die Anwendung revolutionärer Gewalt ein, das lateinamerikanische Konzept der Stadtguerilla wurde breit diskutiert.

Die neue Frauenbewegung
Im September 1968 war die Rede des »Aktionsrates zur Befreiung der Frauen« auf einer Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt der Anstoß für die neue Frauenbewegung: »Der SDS (ist) innerhalb seiner Organisation ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Dabei macht man Anstrengungen, alles zu vermeiden, was zur Artikulierung dieses Konfliktes zwischen Anspruch und Wirklichkeit beitragen könnte, da dies eine Neu-Orientierung der SDS-Politik zur Folge haben müßte. Diese Artikulierung wird auf einfache Weise vermieden. Nämlich dadurch, daß man einen bestimmten Bereich des Lebens vom gesellschaftlichen abtrennt, ihn tabuisiert, indem man ihm den Namen Privatleben gibt. In dieser Tabuisierung unterscheidet sich der SDS in nichts von den Gewerkschaften und den bestehenden Parteien. Diese Tabuisierung hat zur Folge, daß das spezifische Ausbeutungsverhältnis, unter dem die Frauen stehen, verdrängt wird, wodurch gewährleistet wird, daß die Männer ihre alte, durch das Patriarchat gewonnene Identität nicht aufgeben müssen.[...]
Die Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben wirft die Frau immer zurück in den individuell ausgetragenen Konflikt ihrer Isolation. [...] Wir streben Lebensbedingungen an, die das Konkurrenzverhältnis zwischen Mann und Frau aufheben. Dies geht nur durch Umwandlung der Produktionsverhältnisse und damit der Machtverhältnisse, um eine demokratische Gesellschaft zu schaffen.«
Diese Initiative war ein Auslöser - überall in der Bundesrepublik wurden »Weiberräte« gegründet, Frauen organisierten sich autonom.
Als im Sommer 374 Frauen im »Stern« öffentlich bekannten, »Ich habe abgetrieben«, begann eine Kampagne gegen den Abtreibungsparagraphen § 218 und für das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Die von der sozialliberalen Koalition bei Regierungsantritt 1969 zwar angekündigte, aber immer wieder verschobene Liberalisierung des § 218 wurde von den Frauen eingefordert.
Die Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Frau, der Rolle in Ehe, Familie und Gesellschaft, der Doppelbelastung und Leichtlohngruppen, die Forderung nach Abschaffung des § 218 sowie praktische Unterstützung von Frauen, die abtreiben wollen (wie die Organisierung von Abtreibungsfahrten nach Holland, wo ein liberaleres Abtreibungsgesetz gilt), wurden in Gruppen, auf Kongressen und ab Mitte der 70er Jahre auch in Frauenzentren diskutiert. In Gesundheitszentren vermittelten Fachfrauen Kenntnisse über Abtreibung, Selbstuntersuchung und Verhütung, um der Macht von Ärzten etwas entgegenzusetzen. Ab 1973/74 entstanden Selbsterfahrungsgruppen, in denen Frauen ihre individuellen Erfahrungen als gesellschaftlich bedingte Unterdrückung analysierten und Widerstandsformen entwickelten.
In der Verbindung der subjektiven Erfahrung, als Frau in einem patriarchalen-kapitalistischen System unterdrückt zu werden, mit der Analyse der politischen Verhältnisse entwickelte die Frauenbewegung eine Sprengkraft, die radikale Veränderungen in allen sozialen und gesellschaftlichen Bereichen zur Folge hatte.
Am 25. April 1974 stimmte der deutsche Bundestag der Fristenlösung - einer Reform des § 218 - zu, nach der Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legalisiert wurden. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erklärte diese Reform jedoch am 25. Februar 1975 für verfassungswidrig. Daraufhin verabschiedete der Bundestag am 18. Mai 1976 die erweiterte Indikationslösung, wonach eine Abtreibung nur dann möglich ist, wenn ein Arzt oder eine Beratungsstelle das Vorliegen einer sozialen, medizinischen oder eugenischen Indikation bescheinigt.
Parallel zur Frauenbewegung organisierten sich auch andere gesellschaftliche Gruppen: Lehrlinge und Schüler gründeten unabhängige Zusammenschlüsse und kämpften für autonome, selbstverwaltete Jugendzentren - eine Bewegung, die sich nicht nur auf die Großstädte beschränkte, sondern auch auf ländliche Gebiete übergriff.
Auch in den Betrieben waren Auswirkungen der 68er Revolte spürbar. Gegen den Willen der Gewerkschaften wurden im September 1969 in wilden Streiks höhere Löhne durchgesetzt. Anfang 1973 begann erneut eine Welle von wilden Streiks, u.a. bei Hoesch, Mannesmann, Karmann, John Deere, Klöckner, Hella, Pierburg, Ford, Daimler-Benz, Saarbergkonzern. Diese Streiks wurden vor allem von ausländischen ArbeiterInnen getragen, die neben Lohnerhöhungen Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Abschaffung von Leichtlohngruppen erhoben. Polizei und Werkschutz schlugen die Streiks nieder, der Werkschutz wurde in der Folge weiter ausgebaut.

Die Reaktion
In den Medien - allen voran in den Zeitungen des Springer-Konzerns - wurde eine massive Hetze gegen die Studenten verbreitet. So z.B. auch die Äußerung des Berliner Bürgermeisters Klaus Schütz (SPD): »Ihr müßt diese Typen sehen. Ihr müßt ihnen genau ins Gesicht sehen. Dann wißt ihr, denen geht es darum, unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören.«
Der Tod von Benno Ohnesorg bei der Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin am 2. Juni 1967 - Ohnesorg wurde im Verlauf der Demonstration von dem Polizisten Kurras in den Hinterkopf geschossen - zerstörte die Illusionen über den bürgerlichen Staat.
Als knapp ein Jahr später - am 10. April 1968 - der 23jährige Josef Bachmann auf Rudi Dutschke schoß, demonstrierten in Berlin 3.000 Menschen vor dem Springer-Hochhaus. In vielen Städten wurde der Springer-Konzern als der wirklich Schuldige an diesem Attentat angegriffen.

Die Auflösung der APO
Ende des Jahres 1968 stieß die APO in ihrer bisherigen Form und Zielsetzung an ihre Grenzen. Auf der Suche nach »dem revolutionären Subjekt« und einem Ansatzpunkt für politische Veränderungen splitterte sie sich auf. Es wurden verschiedene K-Gruppen gegründet, die vor allem auf die Revolutionierung der Arbeiterklasse setzten (die KPD, mit dem ihr angegliederten Kommunistischen Studentenverband und der Liga gegen den Imperialismus; in verschiedenen Städten entstanden kommunistische Bünde, die sich 1973 zum KBW, Kommunistischen Bund Westdeutschlands zusammenschlossen; sowie die am 16. September 1968 gegründete DKP, die Deutsche Kommunistische Partei). Andere begannen den »Marsch durch die Institutionen«, um die gesellschaftlichen Strukturen von innen heraus zu verändern. Eine dritte Strömung bildeten die antiautoritären, undogmatischen Gruppen. Am 21. März 1970 löste sich der SDS-Bundesvorstand auf.
Ein Teil der Linken ging in die Betriebe, um dort die politische Arbeit fortzusetzen; andere - vor allem undogmatische Gruppen - versuchten, in anderen sozialen Bereichen anzusetzen: sie bezogen sich in ihrer politischen Arbeit auf Stadtteile, unterstützten oder initiierten Mietstreiks und Hausbesetzungen.
Als von mehreren Nahverkehrsunternehmen die Fahrpreise erhöht wurden, begann 1969 - ausgehend von Hannover - der Kampf gegen Fahrpreiserhöhungen und für den »Nulltarif«. Die Aktion »Roter Punkt« wurde initiiert (Autofahrer signalisierten mit einem Roten Punkt auf der Windschutzscheibe, daß sie bereit waren, andere Personen mitzunehmen), Schwarzfahrerversicherungen wurden gegründet und Fahrkartenautomaten außer Betrieb gesetzt.
Zur gleichen Zeit konstituierten sich die Rote Armee Fraktion (RAF) und die Bewegung 2. Juni (im Juni 1972 als Zusammenschluß mehrerer Stadtguerillagruppen) als bewaffnet und illegal kämpfende Gruppen. Sie griffen das vor allem in Lateinamerika in die Praxis umgesetzte Konzept der Stadtguerilla auf.

Die Aufrüstung zur »inneren Sicherheit« durch die sozialliberale Koalition
Am 21. Oktober 1969 übernahm erstmals eine SPD/FDP-Koalition die Regierungsverantwortung, Willy Brandt wurde Bundeskanzler. Mit seiner Person verknüpften viele die Hoffnung auf Reformen, auf eine gesellschaftliche Demokratisierung und soziale Verbesserungen.
Mit einer Amnestie für alle Demonstrationsdelikte, die ein Strafmaß von acht Monaten nicht überschritten, ermöglichte die sozialliberale Koalition die Integration von Teilen der Studentenbewegung, die als neue akademische Elite unverzichtbar waren. Gleichzeitig wurden im Januar 1972 der Radikalenerlaß verabschiedet und eine massive Aufrüstung zur Wahrung der »inneren Sicherheit« in Angriff genommen, um die revolutionäre, nicht integrationswillige Linke auszugrenzen. Im Zuge der »Terroristenfahndung« erschossen Zielfahndungskommandos 1971 Petra Schelm, Georg von Rauch und Thomas Weissbecker.
Bei Regierungsantritt hatte die sozialliberale Koalition ein »Sofortprogramm Innere Sicherheit« zum Ausbau und Aufrüstung von Polizei und Staatsschutz vorgelegt, das bis Ende 1976 überwiegend verwirklicht wurde:
- 1968 wurde die Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft, Bundeskriminalamt und Bundesgrenzschutz neu strukturiert und zentralisiert;
- im Sommer 1969 wurden die Mittel für das Bundeskriminalamt verdoppelt und seine Kompetenzen ausgeweitet;
- im November 1970 wurde das »Sofortprogramm zur Verbrechensbekämpfung« verabschiedet, das u.a. den Ausbau des BKA zur zentralen Bundesbehörde zuständig für »Schwerstkriminalität« und »Staatsschutzsachen« regelt;
- im September 1971 wurde Horst Herold (SPD) Präsident des Bundeskriminalamtes. Er stand für das Ziel einer totalitären Erfassung und Kontrolle zum Schutz der »inneren Sicherheit« der BRD mit Hilfe der Computerisierung;
- Am 28. Januar 1972 wurde der »Extemistenbeschluß« von den Regierungschefs des Bundes und der Länder verabschiedet, wonach nur derjenige »in das Beamtenverhältnis berufen werden (darf), der die Gewähr bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung [...] eintritt.« In den folgenden Jahren erfolgte die politische Überprüfung von ca. 3,5 Millionen BewerberInnen für den öffentlichen Dienst, und es wurden ca. 2.500 Berufsverbote ausgesprochen;
- mit dem am 22. März 1972 vom Bundeskabinett verabschiedeten »Schwerpunktprogramm Innere Sicherheit« wurde das »Sofortprogramm« von 1970 weiter ausgebaut, der Aufgabenbereich des Bundesgrenzschutzes erweitert und die Spezialeinheit GSG 9 zur »Terroristenbekämpfung« ins Leben gerufen;
- das BKA-Gesetz vom 29.06.73 bildete die Grundlage für eine Erweiterung und Zentralisierung der Kompetenzen des Bundeskriminalamtes, sowie für einen Ausbau der datenmäßigen Erfassung; ab Mai 1975 galt die zentrale Zuständigkeit des BKA für den Bereich »TE« - »Terrorismus«.

Die Verhaftungen von Mitgliedern der Guerilla und die ersten Aktionen zur Gefangenenbefreiung
Anfang des Jahres 1972 reagierte die RAF auf die erneuten Flächenbombardements in Vietnam durch die US-Armee mit einer »Mai-Offensive«: sie verübte gegen US-Militäreinrichtungen in mehreren Städten Anschläge. Wenig später, im Juni 1972 wurden Andreas Baader, Holger Meins, Jan Carl Raspe, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt, Irmgard Möller, Klaus Jünschke und Gerhard Müller verhaftet.
Die Bewegung 2. Juni entführte im Februar 1975 - zwei Tage vor den Berliner Wahlen - den Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz und forderte die Freilassung von politischen Gefangenen. Der regierende SPD-Senat stand vor dem Problem, den Spitzenkandidaten der Gegenpartei nicht in Gefahr bringen zu können und erfüllte die Forderungen der Entführer; die Gefangenen wurden in die Volksrepublik Jemen ausgeflogen, Peter Lorenz am 5. März wieder freigelassen.
Zwei Monate später - am 24.4.75 - besetzte das »Kommando Holger Meins« die deutsche Botschaft in Stockholm und forderte die Freilassung von 26 politischen Gefangenen. Die Polizei stürmte das Gebäude, die dort deponierte Bombe explodierte. Ein Mitglied des Kommandos, Ulrich Wessel, wurde bei der Erstürmung getötet, Siegfried Hausner starb, nachdem er - gegen die Zustimmung der Ärzte - mit schweren Verletzungen in die BRD transportiert worden war, im Stammheimer Knast.

Internationale Solidarität
Die internationalen Bezugspunkte der deutschen Linken waren neben Vietnam und dem Iran die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, die im Oktober 1966 gegründete Black Panther Party und die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika und Palästina.
Chile
Im September 1973 begann nach dem Militärputsch eine breite Solidaritätskampagne zu Chile. In Chile hatte Salvador Allende als Kandidat der »Unidad Popular«, eines linken Wahlbündnisses, im September 1970 die Wahlen gewonnen. Nach seinem Amtsantritt führte er sofort längst überfällige soziale Reformen durch - wie z.B. die kostenlose Verteilung von Lebensmitteln oder Schulbüchern an Bedürftige, die Verstaatlichung wichtiger Industriebetriebe und den Aufbau eines umfassenden Gesundheitswesens.
Die internationalen Konzerne und die westlichen Regierungen reagierten mit einer wirtschaftlichen Blockade und materieller Unterstützung der rechten Parteien. 1970 fiel der Oberkommandierende der chilenischen Armee, General Schneider, einem Attentat zum Opfer, nachdem er sich geweigert hatte, die Regierung Allende durch einen Militärputsch zu stürzen. Aus den im März 1972 von einem amerikanischen Journalisten veröffentlichten »ITT-Papieren«, geht hervor, daß der US-Konzern ITT zusammen mit der CIA und führenden chilenischen Unternehmen aktiv an den Putsch-Plänen gegen die Regierung Allende und an der Ermordung Schneiders beteiligt war.
Trotz einer Verschärfung der wirtschaftlichen Lage in Chile gewann die Unidad Popular im März 1973 die Parlamentswahlen, am 11. September 1973 putschte - mit tatkräftiger Unterstützung der CIA - das chilenische Militär. In den folgenden Monaten wurden mehr als 30.000 ChilenInnen ermordet, tausende ins Exil gezwungen.
Der Putsch löste unter der deutschen Linken eine breite Solidarität aus. Chile-Komitees wurden gegründet, die Öffentlichkeit über die Situation in Chile herstellten und versuchten, die Aufnahme politischer Flüchtlinge in der BRD durchzusetzen. Neben dem Entsetzen über das Massaker an Oppositionellen wurde am Beispiel Chiles deutlich, daß ein friedlicher Übergang zum Sozialismus von den Regierungen der imperialistischen Länder und den multinationalen Konzernen mit allen Mitteln verhindert werden würde.

Palästina
Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet, nachdem die UNO-Vollversammlung im Jahr zuvor die Teilung des ehemaligen britischen Mandatsgebietes in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat beschlossen hatte. Bereits einen Tag nach Staatsgründung begann der erste israelisch-arabische Krieg, in dem das israelische Militär den Sieg davontrug. Mehr als 900.000 PalästinenserInnen flüchteten in die arabischen Nachbarländer, nach dem »6-Tage-Krieg« im Juni 1967 kamen nach der Besetzung des Westjordan-Ufers und des Gaza-Streifens durch die israelische Armee weitere 350.000 Flüchtlinge hinzu.
In den Flüchtlingslagern und den besetzten Gebieten gründeten sich verschiedene palästinensische Befreiungsbewegungen, die sich im Juni 1964 in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zusammenschlossen. 1968/69 gewannen innerhalb der PLO die Fatah und die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) die Mehrheit. Sie vertraten eine antiimperialistische und antizionistische Politik, und lösten die traditionellen palästinensischen Eliten ab.
Nach dem »6-Tage-Krieg« waren die palästinensischen Flüchtlingslager in Jordanien zur Basis der Widerstandsbewegung geworden, hier befand sich auch die politische und die militärische Führung. Als sich der jordanische König Hussein in seiner Macht bedroht sah, kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Palästinensern und der jordanischen Armee. Im September 1970 griff die militärisch überlegene Armee die palästinensischen Flüchtlingslager an, mehr als 20.000 PalästinenserInnen verloren dabei ihr Leben. Die Kämpfe dauerten noch bis zum Juli 1971 an, dann mußte sich die PLO geschlagen aus Jordanien zurückziehen.
Um das Schweigen der »Weltöffentlichkeit« zu dem Massaker in Jordanien, der Vertreibung der Palästinenser aus Israel und dem Elend in den Flüchtlingslagern zu durchbrechen, entführten Kommandos der PFLP im Sommer 1970 mehrere Flugzeuge. Sie begründen ihre Aktionen mit den Worten: »In der heutigen Welt ist niemand unschuldig, ist niemand neutral. Entweder man steht auf der Seite der Unterdrücker oder auf der Seite der Unterdrückten.«
Im Herbst 1971 gründete sich die Organisation »Schwarzer September«, die mit ihrem Namen an das Massaker in den Flüchtlingslagern in Jordanien vom September 1970 erinnern wollte. Ein Kommando des Schwarzen September nahm bei den Olympischen Spielen in München am 5. Septmeber 1972 Mitglieder der israelischen Olympia-Mannschaft als Geiseln und forderte die Freilassung von 200 Palästinensern aus israelischer Gefangenschaft. Wie schon mit den Flugzeugentführungen zuvor verfolgten sie mit der Geiselnahme auch das Ziel, vor der in München versammelten internationalen Presse auf die Lage und den Befreiungskampf der Palästinenser aufmerksam zu machen. Die Aktion endete in einem Blutbad. Entgegen der Zusage des damaligen Bundesinnenministers Genscher auf freien Abzug, wurden das Kommando und die Geiseln zum Militärflughafen Fürstenfeldbruck geflogen, wo Scharfschützen das Feuer eröffneten. Alle israelischen Geiseln und fünf der acht Mitglieder des Kommandos wurden getötet.
Einen Monat später wurden die palästinensischen Organisationen GUPS (Generalunion der palästinensischen Studenten) und GUPA (Generalunion der palästinensischen Arbeiter) in der Bundesrepublik verboten.
Innerhalb der deutschen Linken begann in den Jahren 1969/70 eine Auseinandersetzung und Solidarisierung mit den Palästinensern. Die Nähe zu den politischen Positionen der Al Fatah und der PFLP führten zu einer praktischen Zusammenarbeit, deutsche Linke reisten - zum Teil zu militärischer Ausbildung - in palästinensische Flüchtlingslager und knüpften engere Verbindungen zwischen der deutschen Linken und den palästinensischen Organisationen.
Während die westlichen Regierungen Israel zum »Bollwerk gegen die Araber« und zum politischen und militärischen Stützpunkt im Nahen Osten ausbauten, begriff sich die Linke zunehmend als antizionistisch und warf Israel »faschistische Methoden« vor. Antizionismus und die Solidarisierung mit dem Befreiungskampf der Palästinenser wurden zu einem wichtigen Bezugspunkt der deutschen Linken.
Auch die westdeutschen Stadtguerilla-Gruppen (RAF, RZ und 2. Juni) arbeiteten mit palästinensischen und anderen arabischen Organisationen zusammen bzw. unterstützen deren Aktionen. Im Jahre 1972, nach dem Blutbad in Fürstenfeldbruck/Olympische Spiele erklärte die Rote Armee Fraktion: »Die Aktion des Schwarzen September in München hat das Wesen imperialistischer Herrschaft und des antiimperialistischen Kampfes auf eine Weise durchschaubar und erkennbar gemacht wie noch keine revolutionäre Aktion in Westdeutschland und Westberlin. Sie war gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch.«

Die Revolutionären Zellen
Im November 1973 zeichneten erstmals Revolutionäre Zellen für eine bewaffnete Aktion. Ihr Konzept baute auf der Organisierung in autonomen Zellen auf, einer »Gegenmacht in kleinen Kernen«, die gleichzeitig Teil der - legalen - politischen Massenarbeit sein sollten. Ziel war eine Verbreiterung ihrer Politik, bis im Verlauf eines »langwierigen Kampfes« bei einer erwarteten Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche die Stadtguerilla als Massenperspektive geschaffen sei.
In ihren ersten Aktionen spiegeln sich die politischen Positionen der deutschen Linken wider. Im »Revolutionären Zorn Nr.1« vom Mai 1975 unterteilen sie ihre Anschläge in drei Bereiche:
- antiimperialistische Aktionen
- antizionistische Aktionen
- Aktionen, die die Kämpfe von Arbeitern, Jugendlichen und Frauen unterstützen.

Antiimperialismus:
Im November 73 richteten sich ihre Anschläge gegen den US-Konzern ITT wegen seiner Beteilung am Putsch in Chile, im Juni 74 gegen das Chilenische Generalkonsulat in Berlin.

Antizionismus:
Im September 74 verübten die Revolutionären Zellen Anschläge auf die Maschinenfabrik Korf, »die zu 3/4 in zionistischem Besitz ist«, auf das Büro der israelischen Fluggesellschaft EL-AL, in den Jahren 78 und 79 auf Firmen, die israelisches Obst importieren.
In den Jahren 1975 und 1976 gehörten RZ-Mitglieder palästinensisch-deutschen Kommandos an: Hans-Joachim Klein war Teil des Kommandos, das am 21. Dezmeber 1975 die OPEC-Konferenz in Wien besetzte und die Minister von 11 Ölstaaten als Geiseln nahm (siehe Kapitel 4).
Im Juni 1976 entführten Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse gemeinsam mit palästinensischen Genossen eine Air-France-Maschine und forderten die Freilassung von 53 politischen Gefangenen, darunter 40 Palästinenser aus israelischer Haft und sechs politische Gefangene aus der BRD. Sie leiteten das in Israel gestartete Flugzeug von Athen nach Entebbe/Uganda um. Am 4. Juli 1974 wurde die Maschine von israelischem Militär gestürmt, die Mitglieder des Kommandos erschossen.
Als Anfang 1977 der Film »Unternehmen Entebbe« - eine in Hollywood gedrehte Aufbereitung der Flugzeugentführung - in deutschen Kinos anläuft, versuchen die RZ, durch Brandanschläge die Absetzung des Films zu erreichen. Gerd Albartus und Enno Schwall wurden kurz darauf verhaftet und wegen eines versuchten Anschlags auf ein Aachener Kino zu hohen Haftstrafen verurteilt (siehe Seite129).
Auf diese Entführung eines Flugzeuges nach Entebbe beziehen sich die neuen Texte von Revolutionären Zellen, ausgehend von dem Papier zum Tod von Gerd Albartus (siehe Seite 20).
Aus den Texten läßt sich schlußfolgern, daß der Mißerfolg der Aktion zunächst auf praktische, »militärische« Probleme zurückgeführt und die Zusammenarbeit mit der palästinensischen Gruppe auf Eis gelegt wurde. Gleichzeitig brachen an der »Entebbe«-Aktion politische Gegensätze innerhalb der RZ auf, die zu einer Spaltung führten. Während ein Teil der RZ das sozialrevolutionäre Element ihrer Politik in den Vordergrund stellt und die Vermittelbarkeit ihrer Politik - auch in den Metropolen - als zentrales Moment ansieht, betonen die anderen die Notwendigkeit eines internationalistischen, antiimperialistischen Kampfes, um »nicht in die Bedeutungslosigkeit zu versinken«.
Die RZ spalteten sich an dem Widerspruch, daß eine revolutionäre Politik, die auf weltweite Befreiung zielt, die Ziele und Erfahrung von Befreiungsbewegungen aus der 3.Welt einbeziehen muß, andererseits die Bevölkerung in den Metropolen gleichzeitig Nutznießer der Ausbeutung der 3.Welt und Opfer ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse ist.
Vieles bleibt in den neuen Texten der RZ unklar, vage und nur angedeutet, eine Auseinandersetzung innerhalb der RZ hat offenbar nicht oder nicht zur Genüge stattgefunden.
Die Debatte um das Verhältnis von Antisemitismus und Antizionismus in den RZ - und der deutschen Linken - geht einher mit der Infragestellung internationalistischer und antiimperialistischer Positionen. Dabei wurde außer acht gelassen, daß der Internationalismus der RZ nach den vorliegenden Papieren ausschließlich in einer Zusammenarbeit mit palästinensischen Befreiungsbewegungen praktisch wurde, bei einer Zusammenarbeit mit türkischen, lateinamerikanischen oder kurdischen Linken hätten sich wohl andere Probleme und Auseinandersetzungen ergeben.

Aktionen zur Unterstützung der Kämpfe von Arbeitern, Jugendlichen und Frauen
Sie reichen vom Brandanschlag auf das Auto eines Verantwortlichen für den Abriß des Jugendzentrums Putte in Berlin, Anschläge auf die Gebäude der Ausländerpolizei Berlin, der Industrie- und Handelskammern Mainz und Ludwigshafen, des Bundesverbandes der deutschen Industrie und des Bundesverbandes der deutschen Arbeitgeberverbände zur Feier des 1. Mai 75 über einen Anschlag auf den Spekulanten Kaußen in Köln bis zu einer Serie von Anschlägen auf Fahrkartenautomaten, Schwarzfahrerkarteien und Autos von Kontrolleuren. In Berlin und im Ruhrgebiet verteilten RZ gefälschte Fahrkarten, und zu Ostern 75 gefälschte Gutscheine in Obdachlosenheimen.
Die Frauen der RZ legten als Beitrag zum Kampf gegen den § 218 Feuer am Bamberger Dom und am Bundesverfassungsgericht.
Als in mehreren deutschen Bahnhöfen Bomben explodierten und in der Presse die westdeutschen Guerillagruppen für die Anschläge verantwortlich gemacht wurden, veröffentlichten die RZ zwei Erklärungen zu den »Bahnhofsbomben«.
Der Bezug auf die legale Linke, der schon im Konzept der RZ angelegt war, führte dazu, daß deren Unverbindlichkeit und Diskontinuität mitzuvollziehen waren. Versuche, Kampagnen fortzusetzen, wenn sie zu versanden drohten (z.B. Fahrpreiskampagne), brachten den RZ u.a. den Vorwurf ein, sich im Nachhinein an eine Bewegung zu hängen und der Aktualität hinterherzuhinken.


Die Anmerkungen zu diesem Kapitel befinden sich im Buch auf Seite 690 ff.




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