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» Ein jugendlicher Hundertjähriger « - Vorwort

Aus:
Berlin - Moskau - Kolyma und zurück, Seite 7-13

Von Jakob Moneta

            Als ich Nathan Steinberger in einem Café auf dem Frankfurter Römer kennenlernte, beobachtete ich das starke Zittern seiner Hände, wenn er seine Tasse zum Mund hob. Ich fragte: »Wie alt bist du eigentlich, Nathan? « Seine Antwort: »Ich war schon einmal hundert Jahre alt«, ließ mich erschaudern und einen Hauch der Schrecken im Gulag der ostsibirischen Kolyma verspüren, die ihn zum hundertjährigen Greis gemacht hatten. Kurz darauf erlebte ich Nathan in einer Diskussion, in die er mit sonorer Stimme und geschliffener Argumentation eingriff, und bewunderte, daß sein Geist, sein kritischer Verstand und seine Überzeugungskraft trotz Kolyma so jung geblieben waren wie zu der Zeit, als er sich begeistert dem Sozialismus zugewandt hatte.
           Es sind damals, in den 20er Jahren, in der Tat besonders viele Jugendliche jüdischer Herkunft für die soziale Revolution eingetreten. Sie hofften, daß die Befrei- ungsbewegung der Arbeiterklasse die Menschenrechte für alle herbeiführen, also auch die Emanzipation der Juden bedeuten werde.
          Historisch betrachtet wurde der Emanzipationsprozeß der Juden, das Aufbrechen der Ghettos, dort erreicht, wo die bürgerlich-demokratische Revolution in der Aufstiegsepoche des Kapitalismus von einer Massenbewegung getragen wurde. So in den Niederlanden, in Großbritannien, Frankreich und in den USA. Dort jedoch, wo eine »Revolution von oben« stattfand, wie in Deutschland oder Österreich, wurde die Emanzipation nur gnädig gewährt und, in der Nazizeit, ungnädig wieder zurückgenommen.[1]
          Der in Krisenzeiten des Kapitalismus erstarkende Antisemitismus veranlaßte unter den bürgerlichen Jugendlichen vor allem die aus jüdischen Familien, sich der Arbeiterbewegung zuzuwenden, weil sie auf die sozialistische Revolution auch zur Lösung der Ghettofrage setzten. Wenn man weiß, daß unter dem russischen Zarismus Judenpogrome staatlich als Ablenkungsmanöver von sozialem Elend organisiert wurden, daß es nicht weniger als 650 Gesetze gab, die die Rechte der Juden einschränkten, dann wird erst begreiflich, welch ein Akt der Befreiung für sie die Februar- und Oktoberrevolution von 1917 war.
          Nach der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution wurde bereits am 2. April eine Verordnung erlassen, in der es hieß, daß »... alle Restriktionen, die von gegenwärtig geltenden gesetzlichen Bestimmungen russischen Bürgern wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Sekte oder Nationalität auferlegt wurden, hiermit abgeschafft sind«.[2] 
          Im Gegensatz zur »landläufigen« Meinung haben sich die jüdischen Massen nicht an der Oktoberrevolution beteiligt. Der »Bund«, die größte jüdisch-sozialistische Partei, hat die Menschewiki unterstützt. »Sicher waren viele bolschewistische Aktivisten jüdischer Herkunft, aber ihre Verbindungen zu den jüdischen Massen war völlig abgerissen; sie waren assimiliert, verstanden weder Jiddisch, noch konnten sie es schreiben oder lesen. Dennoch mußte die Sowjetmacht einen Zugang zur jüdischen Bevölkerungsgruppe finden«.[3]
          Im Januar 1918 wurde deshalb ein »Kommissariat für jüdische Angelegenheiten« (Jewsektia) als Abteilung des von Stalin geleiteten Kommissariats für nationale Angelegenheiten gebildet; seine Komissare sollten die jüdischen Massen für den Kommunismus gewinnen und die »sozialpatriotischen« und »versöhnlerischen« Elemente des »Bundes« und anderer jüdisch-sozialistischer Organisationen bekämpfen.
          Als nun »die junge Sowjetrepublik die Frage des Status der jüdischen Bevölkerung klären mußte, entschied sie sich unter dem Druck der jüdischen Kommunisten, der ›Jewsektia‹, für eine Zwitterlösung zwischen Assimilation und Anerkennung der Juden als Nationalität (Volk oder Volk im Werden). Die Juden wurden als einzige in Rußland zu einer Nationalität ohne eigenes Territorium erklärt. Obwohl sie zahlenmäßig stärker, territorial konzentrierter und durch eine höhere kulturelle Homogenität gekennzeichnet waren als Dutzende anderer Nationalitäten,

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Berlin - Moskau - Kolyma und zurück
Nathan Steinberger
Nathan Steinberger im Gespräch mit Barbara Broggini über Stalinismus und Antisemitismus
1. Auflage 1996
ISBN: 3-89408-053-1
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(zzgl. Porto+Versand)
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