Revolutionärer Zorn Nr. 3
Mai 1977
Gegen den Mythos vom bewaffneten Kampf
Was wir uns bei der ganzen Sache eigentlich denken, fragen viele. Nun, wir glauben, daß wir durch unsere Aktionen und ihre Erklärungen, durch unsere Zeitungen und das Interview auf das geantwortet haben, worauf wir ne Antwort wissen - und das ist eine vorläufige.

Das Seltsame ist, daß sowohl unsere Praxis als auch unsere Theorie die Fragesteller überhaupt nicht interessieren, denn sie sind mit ihrer Antwort längst fertig. Sie haben sich ein Monster aufgebaut, das sie Bewaffneter Kampf nennen und das sie gemeinsam zu erlegen trachten. Der Bogen derjenigen, die da am Schreibtisch gemeinsam auf die Jagd gehn, ist wahrscheinlich weit gespannt und scheinbar unversöhnliche Gegner finden doch wieder ihren gemeinsamen Nenner:
Zitat 1: »Unter der perfekt sitzenden Maske des Samariters und Menschenfreundes zeigt sich die Fratze des Terroristen, der über Leichen geht« Hamburger Abendblatt vom 10./11. Mai 1975 über K.H. Roth [30]
Zitat 2: »Vorn das lichte Antlitz des heldenhaften Widerstandskämpfers, hinter dem aber bereits die Fratze des Bullen der zukünftigen Volkspolizei zum Vorschein kommt.« (Joschka Fischer [31] in Autonomie 5, S. 55)
Woher rührt diese Hysterie, die einen Joschka Fischer bei Axel Springer Zuflucht suchen läßt? Warum können in diesem Land so viele Widerstand nur als Gerücht diskutieren, als Gerücht vom bombenden, ballernden Django zum Beispiel, der seinen Sarg hinter sich herzieht (Todestrip)? Weil diese Wichsvorlage, an der man sich immer wieder voll Schauern einen runterholen kann, die Funktion hat, die konkrete Fragestellung zu verhindern:
Ist es richtig, daß versucht wird, gefangene Revolutionäre rauszuholen? Ist es richtig, daß US-Kasernen brennen? Sollen wir Fahrscheine lieber bezahlen als nachdrucken oder die Automaten abbrennen? Sollen wir Schwarzfahrerkarteien lieber vervollständigen statt anzuzünden? Ist es richtig, Bauspekulanten anzugreifen?
Das heißt die Frage konkret gestellt. (Welch irres Interesse es daran gibt, die Diskussion genau darüber nicht zustande kommen zu lassen, kann man daran ablesen, daß man sich selbst nicht scheut, die Hygiene gegen den Bewaffneten Kampf ins Feld zu führen: da wird dringend geraten, sauber zu bleiben, sich sozusagen täglich die Hände in Unschuld zu waschen, denn wer kämpft, wird von den Bullen infiziert.)
Die Frage konkret zu stellen, heißt: sie zu beantworten - so oder so.
Wer nicht antworten will, produziert Gerüchte, die sich inzwischen zu einem handfesten Mythos ausgewachsen haben: für die einen ist der Bewaffnete Kampf die aktuelle Verkörperung des Leibhaftigen, etwas Fürchterliches, es läuft ihnen schon beim Gedanken daran eiskalt den Rücken runter. Für die anderen ist er das absolut Größte, sowas wie ein Glaubensbekenntnis, ein Werk von Giganten - eben auch nur ein Mythos !
Dieser Mythos, negativ aber auch der positiv besetzt, hat die Funktion aus der selbstverständlichsten Geschichte der Welt, daß der Unterdrückte Widerstand leistet - und zwar nicht nur mit dem Maul - eine übermenschliche, auf jeden Fall eine nicht machbare Angelegenheit zu machen.
Die Existenz der Stadtguerilla hat diesen Mythos nur wieder aktualisiert. Gewachsen ist er in den jahrhundertelangen Niederlagen des deutschen Volkes - der Bauern, der Arbeiter, der Frauen, der Alten, der Kinder, der Minderheiten (wie der Juden) gegenüber Herrschaft in jeder Form.
Alle Herrschaftsverhältnisse kommen auf Dauer nicht mit der physischen Unterwerfung der Menschen aus, sie müssen sich in den Köpfen und Seelen einnisten - sie kolonisieren. Hat in der Vergangenheit diese Funktion im wesentlichen Religion übernommen, so ist das heute zu einem harten Job für ein Millionenheer von Richtern, Journalisten, Technikern, Wissenschaftlern, Meistern, Medizinern, Beamten, Psychiatern geworden. Die Produktionsverhältnisse, die Wohn- und Schulverhältnisse, die Lebens- und Sterbeverhältnisse sind so organisiert, daß sie nicht nur tägliche Zerstörung produzieren, sondern auch das Gefühl des Unabänderlichen, Ewigen - den Mythos von der Macht.
Die Macht und ihr Mythos halten die ihr unterworfenen Menschen im Status von Kolonisierten. »Der Kolonisiertenstatus ist eine Neurose.« (Sartre) Eine Neurose, die ständig die Lebenskraft der Menschen untergräbt, sie an ungelebten Möglichkeiten, an den täglich erduldeten Niederträchtigkeiten ersticken läßt, so wie die Verschmutzung in einem See den Sauerstoff bindet, den die Fische zum Leben brauchen. Das Ergebnis ist die massenhafte Auflösung von Personen, das Auseinanderbrechen von Identitätsresten - plastic people - geladen bis zum Zerbersten mit Furcht und Aggressionen. »Diese zurückgehaltene Wut dreht sich, wenn sie nicht ausbricht, im Kreis herum und richtet unter den Unterdrückten selbst Verheerungen an.« (Sartre). Man braucht sich nur in der deutschen Linken umzugucken und man stößt überall auf die katastrophalen Spuren dieser verinnerlichten Revolte.
Wer die Macht und die Herrschaft nicht mit seinen ganzen Fähigkeiten angreift, sich nur wegduckt, wie die Alternativbewegung, der strickt selber mit am Mythos von Macht und damit auch an seiner Entsprechung: dem Mythos vom bewaffneten Kampf.
Denn wer Herrschaftsverhältnisse nicht angreift, erklärt sie dadurch praktisch für unangreifbar, egal, was er sich theoretisch dazu denkt. Folglich können die, die sie mit Erfolg angreifen, keine normalen Menschen sein. Deutlich wird das bei der Lorenz-Entführung: da ist von eiskalten, frechen Spezialisten die Rede, von Politprofis, von genialen Strategen ... kurzum von Übermenschen, von Monstren. Die Niederlage, die der Revolutionär Illich Ramirez Sanches [32] einigen Herrschaften bereitet hat, versuchen sie in ihrer Beweiskraft dadurch zu entschärfen, daß sie sie zu den Geniestreichen eines Phantoms verzerren - des Phantoms »Carlos«. Dieses Verfahren wird grundsätzlich jeder erfolgreichen Aktion gegenüber angewandt: erfolgreicher Widerstand wird an Ort und Stelle zur Legende verarbeitet - zum Werk von Über- oder Untermenschen, jedenfalls nicht von Menschen gemacht. Für die Unterdrückten gilt also weiterhin: Widerstand liegt nicht im Bereich des Menschenmöglichen, Herrschaftverhältnisse sind unabänderlich, daher unangreifbar.
Die ETA [33] sagt dazu, wie sie Carrero Blanco [34] in den Himmel hat fahren lassen, folgendes:
»Zusammenfassend kann man sagen: es ist nicht notwendig, Bergbauingenieur zu sein, um einen Tunnel zu graben, noch muß man Sprengstoffspezialist sein, um das Pflaster in die Luft zu jagen, ebensowenig ist es notwendig, Spezialist für Optik zu sein, um ein Auto so hinzustellen, daß man eine Stelle markiert und jemanden hinzustellen, der ein Zeichen gibt. Anders gesagt, man muß die Mythen vernichten. Niemand ist ein Gott und braucht das zu sein: das ist das Werk ganz normaler Leute ...«
Die Entmenschlichung der Revolutionäre, ihre Vertierung oder Gigantisierung, diese beiden Varianten der Mythologisierung, ist die klassische ideologische Waffe der Konterrevolution.
Die Linke macht diese Dreieinigkeit noch komplett, indem sie den Mythos von den Politruks [35] dazusteuert, die sich gegenseitig und ihre Umwelt mit einem abstrakten, todeswütigen politischen Leistungsdruck erpressen, funktionalisieren, verheizen.
Keiner soll sich in den Revolutionären wiedererkennen. Denn sich mit uns identifizieren, heißt zu begreifen, daß Revolution immer ist, daß es kein »vor der Revolution« und kein »nach der Revolution« gibt. Selbst wenn sich die revolutionären Kräfte nicht mehr rühren, findet Revolution statt, nämlich Konterrevolution. Es gibt in den Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten keine Sekunde von Stillstand. Jede Lebensäußerung eines Menschen ist von diesem Krieg geprägt: sie hat entweder den Charakter des Hinnehmens oder den Charakter des Aufbegehrens, dazwischen gibt es nichts. Oder anders ausgedrückt: man kämpft entweder gegen dieses System oder man wird vom System gelebt.
Wer kämpft, steht auf der Liquidierungsliste dieses Staates. Wer nicht kämpft, stirbt systemimmanenten Erstickungstod. Wer uns also Todestrip vorwirft, hat sich für letzteres entschieden und zwar kampflos, während wir mit allen Mitteln um unser physisches und psychisches Leben kämpfen.
Denn Leben muß erst erkämpft werden, es muß Stück für Stück aus den Krallen des Molochs zurückerobert werden.
Denn wir tragen alle das Kainsmal der Kolonisierten: Angst, Scham, Konkurrenz, Neid, Brutalität vermengt mit Sentimentalität ... Und nur durch die radikale Negation all dessen, was man aus uns gemacht hat, werden wir Menschen werden, werden wir leben lernen. Das bedeutet: »Um gegen den Feind zu kämpfen, müssen wir gegen uns selbst kämpfen. Beides ist ein und dasselbe.« (Sartre) Und das, was uns treibt, ist eine Ahnung davon, was Menschen sein könnten, was autonome Völker sein könnten. Wenn wir Chile [36] erleben, wenn wir Portugal erleben, wenn wir Tel Saatar [37] erleben, wenn wir Stammheim erleben, wenn wir Brokdorf [38] erleben, dann wissen wir, daß der unversöhnliche Haß auf diese Menschen- und Völkerfresser in all unserer Verstümmelung das Menschlichste in uns noch ist.
»Diese ununterdrückbare Gewalt ist kein absurdes Unwetter, auch nicht das Wiederaufleben eines Ressentimentes: Sie ist nichts weiter, als der sich neu schaffende Mensch!« (Sartre [39]) Wir behaupten, daß jemand, der nicht mit all seinen Kräften, Fähigkeiten, seiner Phantasie, seinen Gefühlen, seinen Möglichkeiten den Kampf gegen dieses Menschenfressersystem aufnimmt - und zwar mit der Perspektive, das Leben zu gewinnen, d.h. sich bewaffnet - ein Kolonisierter bleibt, ein vom System gelebter. Und wir behaupten weiterhin, daß der bewaffnete Kampf im Rahmen der Möglichkeiten jedes Menschen liegt. Das wissen wir, weil wir es an uns selbst praktisch erfahren haben.
Nichts macht einen Menschen mehr fertig, als die weltweiten, die großen und die kleinen Niederträchtigkeiten hinnehmen zu müssen, weil die Angst vor dem Zorn der Staatsgewalt größer ist, als die Angst, an der eigenen schrittweisen Korrumpierung allmählich zu ersticken. Wir haben auch Angst, denn was dieses System an Verfolgung, Folter, Vernichtung denen zugedacht hat, die es angreifen, ist wahrlich furchterregend.
Zu Revolutionären gehört die Angst wie der Zorn und ihre Entschlossenheit, sich als Menschen neu zu schaffen, in den Metropolen anzugreifen und damit den weltweiten Kampf gegen den Imperialismus zu unterstützen. Wir müssen mit dieser Angst umgehen lernen und sie nicht wie einen dunklen Fremdkörper verdrängen. Denn verdrängte Angst macht ängstlich, irrational, durchgeknallt. Angst, die man gelernt hat, in den Griff zu kriegen, die einem nicht mehr fremd ist, macht cool, zuversichtlich und fürsorglich untereinander (weil wir sie nicht mehr gegenseitig ausspielen). Ein wesentlicher Schritt vom angstkranken Untertan zum neuen Menschen.
Aus diesen praktischen Erfahrungen heraus glauben wir auch nicht an jene Zärtlichkeit, an jenes neue Verhalten untereinander, das ein Teil der Linken zur Zeit propagiert, weil es als Alternative zum Kampf propagiert wird. Das ist eine Zärtlichkeit, die keinem Druck standhält, ein Verhalten untereinander, das von Betulichkeit strotzt - kurzum: man bestätigt sich furchtbar lieb und verständnisvoll in dem, was man/frau ist.

Offener Brief an alle Genossen, die noch bei Verstand sind
Im Dezember hat sich irgend jemand hingesetzt, einen »Offenen Brief an alle Genossen aus der RAF« verfaßt und ihn mit RZ unterschrieben. Rausgekommen ist dabei eine schwer erträgliche Mischung aus naßforschem Gerotze und weinerlichem Anbiedern, aus widerlicher Autoritätsgläubigkeit und frecher Denunziation. Kurzum: die hinterhältigste Abgrenzung gegenüber der in den Knästen kämpfenden Guerilla, weil dazu auch noch behauptet wird, sie käme von der Guerilla draußen.
Beachtlich ist auch die Verwertung dieses Briefes durch das Hamburger SPD-Verfassungsschwein Horchem. In einem am 20. Januar in der »Welt« auszugsweise veröffentlichten Gespräch erwähnt Horchem diesen Brief, zitiert aus ihm: »Ihr (die RAF) seid nicht mehr unsere Genossen«, sagt, daß man dieser Auseinandersetzung im Untergrund große Bedeutung beimesse.
Natürlich könnte dieser Brief von den Bullen selbst sein, denn das ist ihr Geschäft. Viel schlimmer ist jedoch, daß er auch aus der Linken kommen kann, denn die Reaktionen darauf beweisen, daß so macher seinen eigenen Kopf darin wiedererkannt hat, sein eigenes Verhältnis zu den gefangenen Revolutionären, das sich zwar gerne »kritisch-solidarisch« nennt, aber doch nichts anderes als Denunziation ist.
Denn solange ein Mensch nicht kämpft, muß er denjenigen, der es tut, als ständige Anklage empfinden, als Bedrohung seines Arrangements mit der Macht. Im Besonderen gilt dies gegenüber den gefangenen Revolutionären, die man nur als lästiges schlechtes Gewissen mit sich rumschleppen kann, oder am liebsten verdrängt. Weil man weiß, daß man sie ständig verrät, indem man immer noch zuschaut zu dem Kampf, der schon lange angefangen hat. Weil man nicht konkret, praktisch auf ihrer Seite steht, sondern sich lieber ängstlich und gefrustet zwischen den Fronten rumdrückt, kann aus Solidarität nur schlechtes Gewissen, aus Kritik nur Denunziation werden.
Die alte Methode, die eigenen Niederlagen, die eigenen Widersprüche, die eigenen unverdauten Geschichten der Guerilla auf den Tisch zu knallen, zu versuchen, die »gute« RZ, den »frechen« 2. Juni und die »böse« RAF gegeneinander auszuspielen, ist bullig. Bullenmethode ist es auch, in seiner Abrechnung mit der Guerilla deren Namen zu benutzen: auf die gleiche Weise, wie das MEK seine Bahnhofsbomben als RAF-Aktionen ausgeben möchte, so behauptet dieser Brief gegen die Guerilla von der Guerilla zu sein.
Wir halten ihn für einen ersten Schritt, um eine wirkliche Provokation vorzubereiten. Der Brief kommt zu einem Zeitpunkt der Konsolidierung der RZ, der Erweiterung unseres Aktionsniveaus, der Zahl unserer Gruppen und Genossinnen und Genossen. Seit unseren ersten Aktionen 1973 - und inzwischen sind es an die 40 - ist es dem Staatsterror bis heute nicht gelungen, unsere Struktur und Logistik aufzurollen, uns zu finden. Unsere politische Basis hat sich erweitert und gefestigt, das geht auch an den Bullen nicht spurlos vorüber.
Dieser Brief könnte ein erster Schritt dazu sein, durch eine politisch sinnlose und massenfeindliche Provokation unsere politische Basis zu verunsichern und die Glaubwürdigkeit unserer Organisation zu erschüttern.
Wir können solche Briefe und schlimmere Provokationen nicht verhindern. Daß sie möglich sind und zum Teil ernst genommen werden, liegt nicht an unserer Politik. Sie können nur den verwirren, der sich noch nicht entschieden hat, der zwischen den Fronten laviert, der ohne das Korrektiv der Praxis immer wieder auf seinen kolonisierten Kopf hereinfällt. Hereinfällt auf das uralte Staatsschutz- und BILD-Argument vom hierarchischen Gefälle innerhalb der RAF: »Baader läßt die Puppen tanzen«. Das Verhältnis in bewaffneten Gruppen hat nichts von Funktionalisierung und autoritärer Fixierung, es gibt keine Lehrer/Schüler-, Vater/Sohn/Tochter-, Meister/Lehrling-Verhältnisse bei uns, bei der RAF, bei der Bewegung 2. Juni. Stadtguerilla beinhaltet, daß jeder einzelne in dieser Bewegung politisch-militärisch ausgebildet sein muß, daß er in der Lage sein muß, selbständig die politischen und technischen Probleme bewaffneter Angriffe zu lösen, daß er im Notfall völlig auf sich allein gestellt weitermacht, eine neue Gruppe aufbaut, Funktionen anderer übernimmt. Das, was es an autoritären Fixierungen, an Mackertum, an Funktionalisierungstendenzen, an falscher Arbeitsteilung auch in den Kollektiven der Guerilla gibt, ist Gegenstand andauernder Kritik und Auseinandersetzung. Weil wir mit solchen Verhaltensweisen nicht lange überleben würden, weil so keine Kollektivität entstehen kann. Und das ist Existenzbedingung von Guerilla.
Wir sind als Organisation auch kein Teil der sogenannten undogmatischen Linken [40] und haben zum Teil scharfe Kritiken an der Entwicklung dieser Bewegung. Die RZ sind Teil der bewaffneten Linken: unsere Aktionen und Stellungnahmen zielen nicht nur auf den Imperialismus, auf Ausbeuter und Unterdrücker, auf den Repressionsapparat, sondern sind auch innerhalb der Linken Anlaß von Auseinandersetzungen, sowohl ein Moment der Vereinheitlichung, als auch der Polarisierung, ein notwendiger Bestandteil revolutionärer Perspektive.
Als nächstes dann die Behauptung, die Genossen der RAF seien für ihre (politische) Isolation, Isolation im Knast und in der Linken selbst verantwortlich. Jeder, der aufsteht und kämpft, ob in der Stadtguerilla oder in der KKW-NEIN-Bewegung oder im Betrieb, ist isoliert und gehört zu einer identifizierbaren, kleinen gesellschaftlichen Gruppe. Wie schwer es zudem ist, innerhalb der Linken eine kontinuierliche politische Diskussion zu führen, ist bekannt: dies den RAF-Genossen als Problem zuzuschieben, ist schon eine kranke Verdrehung.
Gegenüber dem von der RAF geplanten Hungerstreik hat der Brief eine ganz klare Funktion: Wenn selbst die Stadtguerilla (in diesem Fall angeblich die RZ) ihren gefangenen Schwestern und Brüdern die Unterstützung verweigert, wer soll dann noch einen Hungerstreik unterstützen? Anstatt über die Forderungen der Gefangenen zu diskutieren, wird von vorneherein die politische Basis für die Durchsetzung solcher Forderungen zersetzt, gespalten, abgewiegelt. Wie kaputt muß man selbst sein, um glauben zu können, wir würden den Genossen, mit denen wir gekämpft und gelebt haben, die für uns Leben und Freiheit eingesetzt haben, die uns fehlen, mit denen wir besser kämpfen könnten, in den ihnen noch verbliebenen Widerstandsmöglichkeiten im Stich lassen.
Ungeachtet aller Differenzen, die sich aber anders als in der legalen Linken nicht in gegenseitiger Lähmung, sondern in unterschiedlicher Akzentuierung von Elementen des bewaffneten Kampfes auswirken, sind wir ohne Einschränkungen solidarisch mit allen Schwestern und Brüdern der bewaffneten Linken, mit all ihren Widerstandsformen. Und für die gefangenen Genossinnen und Genossen gilt: sie herauszuholen, damit sie wieder auf allen Ebenen ihre Widerstandsmöglichkeiten zurückgewinnen. Die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen der Stadtguerilla (nicht über die Politik der Stadtguerilla) sind intern und nicht öffentlich: sie werden praktisch in unterschiedlichen Aktionsformen und -zielen. Nur dadurch sind sie überhaupt wichtig.
Zwei wesentliche Argumente des Briefes stoßen auch deshalb auf Unterstützung und Resonanz, weil sie an Diskussionen innerhalb der Linken anknüpfen, die ihren Ausdruck fanden in dem Buch von Peter Brückner über unsere Schwester Ulrike und in dem Beitrag einiger Obermacker zum Pfingstkongreß gegen Repression. Brückner, dessen politischer Identitätsverlust als Banalität, Seichtheit und Geschwätzigkeit in Erscheinung tritt, und der Frankfurter Depressionsbeitrag erfüllen die gleiche Funktion wie der Brief an die RAF. Das, was bei Brückner [41] platonisches Konzept vom Menschen, Entäußerung von sich selbst, Nietzscher [42] Heroenkult genannt wird, heißt bei den alternativen Lebenskünstlern schlichtweg Todestrip, im offenen Brief selbstverständlich Isolation. Verwischt wird durch diese These, die besagt, daß Stadtguerilla gleichbedeutend sei mit Selbstinstrumentalisierung, mit Liebesverzicht, mit Verrohung der Verkehrsformen, mit der Abstraktion von eigenen Bedürfnissen usw. ein einfaches Problem: die RZ und die bewaffneten Gruppen kämpfen nicht gegen das Leben, sondern dafür, daß es massenhaft möglich wird.
Die Revolte, die Auflehnung - das ist Leben. Der Kampf gegen die Maschinisierung des Menschen ist Leben. Den Unterdrücker zu ermorden, ist Leben. Todestrip ist es, Unrecht, Ausbeutung, Erniedrigung jammernd hinzunehmen, mit »neuer Sinnlichkeit« die eigenen Erfahrungen von Militanz und Widerstand zu denunzieren. Todestrip ist es, sich mit der Repression zu arrangieren, nur weil sie heute noch stärker ist. Wir sind noch wenige, die kämpfen, aber wir sind im Kommen. Manche von uns werden vor der Zeit sterben, aber in unseren Beziehungen, unseren Kollektiven, unserem Leben realisiert sich ein Teil dessen, was wir wollen.
Es gibt derzeit in der BRD keine revolutionäre Massenbewegung. Die Taktik der Stadtguerilla ist ein Ausdruck dieser Defensive und Schwäche und nicht etwa Ersatz. Die Streiks 72/73, Nordhorn, Wyhl, Brokdorf, Grohnde sind bislang vereinzelte Revolten geblieben. Die Massenbewegung in der BRD ist weder großartig noch in der Offensive. Da, wo es Kämpfe gibt, verhalten wir uns dazu. Da, wo es keine Massenbewegung gibt, halten wir fest am antiimperialistischen Kampf, am Kampf gegen staatliche Gewalt, weil es ohne Integration dieser Momente keine revolutionäre Perspektive im Imperialismus BRD gibt.




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